Nachgefragt – im Gespräch mit Dr. Sandra Michaelis und Laura Berndt: Integrierte Bildungs- und Jugendhilfeplanung in Bewegung
Impulse aus der Praxis
04.11.2025
Integrierte Bildungs- und Jugendhilfeplanung in Bewegung – Wie der KinderCampus neue Wege der Koordination ebnet
Der KinderCampus Dortmund ist das erste Projektvorhaben der integrierten Bildungs- und Jugendhilfeplanung und steht für einen neuen Ansatz der Zusammenarbeit – weg von isolierten Fachbereichslogiken hin zur integrierten Planung und zum gemeinsamen Wirken.
Das bringt neue Steuerungsaufgaben mit sich. Beteiligt sind bei der Stadtverwaltung Dortmund das Dezernat Schule, Jugend und Familie, der Fachbereich Schule, das Jugendamt und der städtische Eigenbetrieb FABIDO.
Interviewpartnerinnen: Dr. Sandra Michaelis und Laura Berndt, Projektleitungen KinderCampus, Fachbereich Schule der Stadt Dortmund und Dezernatsbüro Schule, Jugend und Familie, Stadt Dortmund
Wie gelingt es in der Praxis, die verschiedenen Fachbereiche und die beteiligten Akteurinnen in eine echte Verantwortungsgemeinschaft zu bringen? Welche Steuerungsinstrumente nutzen Sie, um die unterschiedlichen Planungslogiken und Ressourcenzuständigkeiten zu synchronisieren – und wo stoßen Sie dabei an strukturelle oder kulturelle Grenzen?
Das Modellprojekt läuft derzeit an zwei Standorten in Dortmund: In Westerfilde-Bodelschwingh und in Hörde-Clarenberg. Dort liegen Grundschule, zwei Kindertageseinrichtungen und eine Jugendfreizeitstätte nah beieinander.
Wichtig ist: Wir handeln als Verantwortungsgemeinschaft. Das gemeinsame Handeln ist – neben den inhaltlichen Schwerpunkten – auch an den Standorten eines der zentralen Themen des Projekts. Wir schauen also aus der Perspektive der Verwaltung und aus der Perspektive der Standorte darauf.
Wenn wir uns die Verwaltung anschauen, ist einer der zentralsten Bausteine der regelmäßige Austausch auf Leitungsebene. Hierzu wurde im Dezernat Schule, Jugend und Familie ein neues Austauschformat etabliert:
Monatlich kommen die Dezernentin, die Fachbereichsleitungen und die Geschäftsführung des Eigenbetriebs zusammen, um über integrierte Prozesse und Projekte zu diskutieren und eine gemeinsame Linie abzustimmen. Hier werden auch Entscheidungen zum weiteren Vorgehen getroffen und Ressourcenfragen geklärt. An der Schnittstelle zwischen der strategischen und der operativen Ebene arbeiten wir themen- und projektbezogen mit längerfristigen Koordinierungsgruppen oder kürzer angelegten „Teams auf Zeit“, die sich ebenfalls bereichsübergreifend zusammensetzen.
Die für die integrierten Prozesse geschaffenen Entscheidungs- und Arbeitsstrukturen in der Verwaltung sind essenziell, um die Zusammenarbeit zu organisieren.
Wenn wir uns jetzt die Arbeit an den beiden Standorten anschauen: Dort haben wir zu Beginn des Projekts mit Hilfe einer externen Prozessbegleitung eine Projektstruktur aufgebaut und gemeinsam mit den beteiligten Einrichtungen Ziele sowie eine gemeinsame Vision entwickelt. Das Campusmanagement koordiniert den Prozess vor Ort und ist die Schnittstelle zur Verwaltung.
Innerhalb der Verwaltung und auch in der Arbeit vor Ort kommen sehr unterschiedliche Systeme zusammen. Im Projektkontext sprechen wir gerne davon, dass „Kulturen aufeinandertreffen“. Das sehen wir aber nicht als Hindernis, sondern als Chance und Stärke: Jede Fachlogik hat ihre Berechtigung und wenn man diese Unterschiede anerkennt und gleichzeitig gegenseitiges Verständnis fördert, dann ergänzen sich die Perspektiven und es eröffnen sich neue Lösungen – in einer Verantwortungsgemeinschaft und mit einem Mehrwert für alle Beteiligten – insbesondere für unsere Zielgruppen, die jungen Menschen und ihre Familien in Dortmund.
Wichtig ist aus unserer Sicht, dass von Anfang an Ziele und Verantwortlichkeiten gemeinsam definiert und alle relevanten Akteur:innen eingebunden werden. Nur so entsteht ein echtes Miteinander und das erforderliche Vertrauen zueinander und in den Prozess kann wachsen.
Wir investieren deshalb viel in Kommunikation und Transparenz und zeigen immer wieder, welchen Mehrwert die integrierte Vorgehensweise hat. Trotzdem gibt es auch Grenzen. Vor allem dort, wo Rechtskreise, Ressourcenzuständigkeiten oder Verwaltungslogiken nicht vollständig zusammenpassen.
Ganz konkret finden wir solche Fälle, z. B. wenn wir gemeinsame Aktionen oder Veranstaltungen durchführen wollen. Da kommen schnell versicherungsrechtliche Fragen: Wer ist Veranstalter:in, wer übernimmt die Haftung wenn etwas passiert? Solche Fragen und Herausforderungen begegnen uns in der Zusammenarbeit immer wieder. Dann müssen wir schauen, dass wir eine gute und tragbare Lösung für alle Beteiligten finden. An diesen Stellen braucht es immer wieder Verständigungsprozesse, Kompromissbereitschaft und manchmal auch Geduld.
Wichtig ist, dass wir den gemeinsamen Weg konsequent weitergehen und die Strukturen so verstetigen, dass sie langfristig tragen – und dass wir aus dem Projekt für andere Vorhaben dieser Art lernen.
Mit den Campus-Manager:innen haben Sie eine innovative Koordinationsebene geschaffen, die direkt im Sozialraum agiert und verschiedene Einrichtungen vernetzt. Welche konkreten Koordinierungsaufgaben übernehmen die Campus-Manager:innen im Zusammenspiel zwischen zentraler und dezentraler Steuerung?
Das Campusmanagement koordiniert die Zusammenarbeit der Einrichtungen am KinderCampus und ergänzt bestehende Netzwerke im Stadtteil. Die Campusmanager:innen holen die Beteiligten „an einen Tisch“, um in gemeinsamer Verantwortung Herausforderungen zu analysieren, Lösungswege zu entwickeln und Projekte sowie Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die zum Bedarf des Standorts passen. Die Unterschiede der Bedarfe und die Individualität der Herausforderungen an den Standorten nehmen die Campusmanager:innen in ihrer täglichen Arbeit besonders wahr – darauf gehen wir in der nächsten Frage noch einmal genauer ein.
Das Campusmanagement begleitet darüber hinaus die Umsetzung, indem es Abstimmungen zwischen den Einrichtungen organisiert und die Weiterentwicklung von Projekten moderiert und unterstützt. Die wohl wichtigste – wenn auch oft unterschätzte – Aufgabe ist aber die Beziehungsarbeit. Sie schafft eine verlässliche Grundlage, auf der gelingende Prozesse und Maßnahmen gemeinsam und in Verantwortungsgemeinschaft durchgeführt und verantwortet werden.
Wichtig ist der enge Austausch mit Kindern, Eltern, Partner:innen, Einrichtungsleitungen und Einrichtungsmitarbeitende des KinderCampus. Nur so wird der KinderCampus zu einem lebendigen Ort zum Spielen, Lernen und Lachen.
Im Zusammenspiel übernimmt das Campusmanagement eine Lotsenfunktion zwischen der zentralen Steuerungsebene innerhalb der Verwaltung und der dezentralen Steuerung im Sozialraum: Strategische Ziele der Verwaltung werden vor Ort in die Praxis übersetzt, während zugleich Rückmeldungen und Bedarfe aus dem Quartier in die zentrale Steuerung einfließen.
Wie bewerten Sie die ersten Erfahrungen mit dem Einsatz des Campusmanagement vor Ort und inwieweit unterscheidet sich die praktische Koordination an den beiden verschiedenen Standorten?
Beide KinderCampus-Standorte haben ihre eigenen Stärken und Herausforderungen. Gleichzeitig sind beide Standorte Quartiere in besonderen Lagen. In der praktischen Koordination unterscheiden sie sich nicht wesentlich. Während sich die Vision und die zentralen Handlungsfelder an beiden Standorten decken, sind die Ziele und Bedarfe jeweils standortspezifisch.
Wichtig ist, dass das Campusmanagement sensibel mit den individuellen Bedingungen und Bedürfnissen des Standorts umgeht und gemeinsam mit den Einrichtungen passgenaue und abgestimmte Maßnahmen und Lösungen entwickelt. Das Campusmanagement übernimmt hierbei eine zentrale Rolle: Es moderiert und koordiniert vor Ort, ist Schnittstelle zur Verwaltung und sorgt dafür, dass Bedarfe erkannt, Ressourcen gezielt eingesetzt und Synergien genutzt werden.
Entscheidend ist, dass die Campusmanager:innen eng mit den Akteur:innen vor Ort vernetzt sind, bestehende Strukturen nutzen, Netzwerke aktiv mitgestalten und Projekte kontinuierlich begleiten. Auf diese Weise gelingt es, Doppelstrukturen zu vermeiden und gleichzeitig ein kohärentes Unterstützungsnetzwerk für Kinder und Familien aufzubauen.
Genau in diesem Punkt gab es zu Beginn des Projekts Bedenken – die Sorge, dass neue Strukturen bestehende Netzwerke überlagern oder Doppelstrukturen entstehen könnten. Rückblickend war dies die erste große Herausforderung für die beiden Campusmanager:innen, die sie mit Geduld und viel Kommunikation gemeistert haben, um in einen guten Austausch zu kommen.
Nach zwei Jahren Modellprojekt können wir sagen: Das Dortmunder Modellprojekt KinderCampus ist ein wesentlicher Gelingensfaktor. Für das Campusmanagement wurden zu Projektbeginn Büros an den Standorten eingerichtet, so dass sie für die Leitungen der beteiligten Einrichtungen und die Menschen vor Ort greifbar waren. Diese Präsenz schafft Vertrauen. Gelungene Kooperationen und sichtbare Erfolge vor Ort haben die Verantwortungsgemeinschaft kontinuierlich gestärkt. Heute wirken sie als Motor für Motivation und Engagement, den Weg des KinderCampus erfolgreich weiterzugehen.
Ein zentrales Element der Governance vor Ort ist die bereits erwähnte frühzeitige und kontinuierliche Partizipation von Kindern, Familien und Fachkräften. Alle relevanten Akteur:innen werden kontinuierlich und aktiv in Planung und Umsetzung einbezogen – nicht nur, um Akzeptanz zu sichern, sondern auch um gemeinsame Strategien und Lösungen zu entwickeln.
So haben beispielsweise die Kinder aus den beteiligten Einrichtungen zu Beginn des Projekts gemeinsam ihr Maskottchen entwickelt. Die Eule „Fildi“ für den Standort Westerfilde-Boldelschwingh und das Erdmännchen „Hördi“ für den Standort Hörde. Damit sollte von Anfang an die Identifikation der Kinder mit dem KinderCampus gestärkt und positiv auf den Weg gebracht werden.
Ein anderes Beispiel: Derzeit gestalten die Kinder am KinderCampus Hörde im Rahmen einer Mal-Aktion einen Überseecontainer, der sich auf dem Grundstück zwischen Kita und Grundschule befindet. Er symbolisiert den Übergang zwischen beiden Einrichtungen und steht zugleich für den „RaumGewinn“, den das gemeinsame Projekt schafft. Auch hier geht es darum, die Kinder aktiv einzubeziehen, sie mitentscheiden zu lassen und gemeinsam zu einem Ergebnis zu kommen.
Zukünftig überlegen wir auch, ein Budget für kleinere Projekte zur Verfügung zu stellen. Die Kinder des KinderCampus können dann entscheiden, welche Ideen sie mit dem Geld umsetzen möchten. Begleitet werden sie dabei von einer erwachsenen Person, die die Patenschaft übernimmt.
Interessen und Ideen der Familien werden u.a. durch gemeinsame Familien-Cafés am KinderCampus identifiziert. Die Fachkräfte entwickeln in einrichtungsübergreifenden Arbeitsgruppen und mit Partner:innen im Quartier Aktionen und Projekte, die auf die gemeinsam erarbeiteten Handlungsfelder einzahlen.
Unabhängig voneinander haben sich als Handlungsfelder an beiden Standorten u.a. die Gestaltung von Übergängen, Gesundheitsförderung oder niederschwellige Bildungszugänge herauskristallisiert. Diese Schnittmengen bieten eine solide Grundlage für ein übergreifendes KinderCampus-Konzept, an dem wir derzeit arbeiten. Gleichzeitig achten wir darauf, dass es flexibel genug bleibt, um die Besonderheiten jedes Sozialraums berücksichtigt.
Perspektivisch ist angedacht, das Modell des KinderCampus auf weitere Standorte zu übertragen und auszurollen. In der Abschlussphase der Pilotlaufzeit planen Sie eine Reflexion, die Extern begleitet wird und den Prozess über die Entstehung, Entwicklung und Durchführung kritisch beleuchtet.
Unter welchen Bedingungen kann das KinderCampus-Modell tatsächlich gelingen – und was muss sich strukturell im Sinne einer integrierten Bildungs- und Jugendhilfeplanung ändern, damit solche integrierten Projekte nicht Pilotprojekt bleiben, sondern zur neuen Normalität sozialräumlicher Koordination werden? Welche Rolle spielt dabei die externe Begleitung für die Weiterentwicklung Ihrer Steuerungspraxis?
Das ist richtig. Der KinderCampus soll weiterwachsen. Dafür bereiten wir eine wissenschaftsbasierte Reflexion vor, die den gesamten Prozess beleuchtet – von der Entstehung bis zur Umsetzung.
Was sich bei integrierten Vorhaben – auch über das KinderCampus-Projekt hinaus – gezeigt hat ist, dass eine gemeinsam getragene Vision, ein klar definierter „Auftrag“ und die Einbindung in vorhandene Strukturen wichtig sind. Auch ein frühzeitiges Mitnehmen der beteiligten Akteur:innen ist essenziell. Das gilt für die einzelnen kommunalen Verwaltungsebenen und für die Kooperationspartner:innen im Quartier gleichermaßen. Gerade für die Verwaltung ist es nicht immer einfach, die gewohnten Strukturen einer Linienorganisation zu verlassen. Um dies zu schaffen, müssen zentralen Verwaltungsakteur:innen eine klare Haltung für eine integrierte Arbeitsweise vertreten. Außerdem müssen neue Arbeitsweisen, Kommunikationsstrukturen und Entscheidungswege vereinbart und eingeübt werden, damit die Mitarbeitenden Handlungssicherheit haben. Das muss sich einspielen, braucht Zeit und die Offenheit und Bereitschaft aller für dynamische Veränderungen im Prozess.
Die von uns beauftragte externe Begleitung brachte als neutraler Partner im ersten Projektjahr den Blick von außen ein und unterstützte uns im letzten Projektjahr dabei, den bisherigen Prozess noch einmal kritisch zu reflektieren. Die gewonnenen Erkenntnisse möchten wir nutzen, um das Modellprojekt KinderCampus gezielt weiterzuentwickeln und auf weitere Standorte zu übertragen. Gleichzeitig lernen wir aus dem Vorhaben, wie wir integrierte Projekte innerhalb des Dezernats für Schule, Jugend und Familie künftig so planen können, dass sie von Beginn an auf einer tragfähigen Basis stehen. Damit tragen wir langfristig dazu bei, allen jungen Menschen in Dortmund ein gelingendes Aufwachsen zu ermöglichen.
Weiterführende Informationen und Links:








